Two young men sitting in front of a utopian city landscape with wind turbines Created by Midjourney

MauriceKA – Utopia And How to Get There

Unsortierte Ideen eines optimistischen Nihilisten

Ins Handeln kommen vs. die Aufmerksamkeits-Industrie

Um die Fantastischen 4 zu zitieren: „Heute ist wieder einer der verdammten Tage, die ich kaum ertrage“.

Was ist los? Dieser Blog sollte eigentlich etwas unterhaltsames werden. Das Publikum sollte etwas Unterhaltsames, leicht zu konsumierendes, inspirierendes bekommen. In meinem ersten Artikel habe ich geradezu damit geprahlt, was mich alles so interessiert und wo ich mich auskenne. Der Plan war, bite-sized Häppchen zu diesen Themen zu servieren. Stattdessen muss ich diesen Channel nutzen um mir ein wenig den Frust von der Seele zu schreiben.

Irgend was ist gerade schief in meinem Leben und ich weiß nicht was. Ich bin so unglaublich privilegiert und habe so viele Möglichkeiten in meinem Leben. Ich gehöre zum top 10 % Quantil was das Einkommen in Deutschland betrifft. Ich muss mir über finanzielles keine Sorgen machen. Ich kann mir ein bequemes, sorgenfreies Leben leisten. Ich bin in einer festen Beziehung. Und trotzdem fehlt mir etwas. Ich brauche meine Ruhe und trotzdem langweile ich mich manchmal. Ich habe Probleme mit der Impulskontrolle beim Essen. Ich habe Probleme mich zu motivieren.

Heute war z. B. ein schöner Tag. Sonnig und kalt. Das perfekte Wetter um raus zu gehen und ein bisschen Zeit an der frischen Luft zu verbringen. Ich hätte sogar an einen schönen Ort in der Natur fahren und eine kleine Wanderung unternehmen können. All das kann ich mir finanziell und zeitlich leisten. Ich hätte in ein schönes Café gehen und mich verwöhnen lassen können. Ich hätte Sport machen und mich hinterher besser fühlen können. So viele Dinge von denen ich weiß, dass sie für eine bessere Stimmung sorgen. Von denen die Psychologie objektiv weiß, dass sie einen sich besser fühlen lassen. Trotzdem habe ich sie nicht gemacht.

Stattdessen habe ich mein Handy genommen und mehrere Stunden TikTok geschaut. Ich halte diese App mit ihrem dahinter liegenden Algorithmus für äußerst bedenklich. Als jemand der vor 1980 geboren ist fühle ich mich trotzdem als Digital Native. Ich bin zwar nicht mit dem Netz aufgewachsen, aber von Anfang an dabei. Ich habe die ganze Entwicklung mitgemacht, war immer neugierig und habe immer die neuesten Trends und Services ausprobiert. Kaum ein soziales Netzwerk, auf dem ich keinen Account habe. Und trotzdem ist TikTok eine Herausforderung für mich. Mein Gehirn ist nicht gut vorbereitet auf die Druckbetankung, die diese App liefert. Ist man als Jugendlicher damit konfrontiert, entwickelt man sicher schon früh bessere Strategien, inklusive einer Exit-Strategie, damit umzugehen. Ich fühle mich diesem Algorithmus relativ hilflos ausgesetzt. ByteDance, die (noch dazu chinesische) Firma hinter TikTok, bzw. der Algorithmus der mein Profil für sie erstellt, hat meine Interessen in kürzester Zeit erkannt und hochpräzise parametrisiert. Fast ausschließlich alle Videos, die mir vorgeschlagen werden sind tatsächlich interessant für mich. Die Videos sind in stundenlanger Arbeit aufwändig produziert und auf maximalen Effekt in wenigen 10 Sekunden ausgelegt. Das Belohnungssystem in meinem Gehirn springt immer wieder in kleinen Abständen an. Oft denke ich „oh, dieses Video hat sich ja richtig gelohnt, ich habe meine Zeit hier ja sehr sinnvoll eingesetzt“.

Das problematische ist, wie ich die App nutze. Meistens werfe ich sie im Zustand völliger Energielosigkeit an, oder wenn ich mich auf eine Art „betäuben“ möchte. In diesem Zustand sollte man eigentlich Self-Care betreiben, was mit TikTok leider nur so gut möglich ist als würde man zu einer Flasche Bier greifen. Statt mich meiner Energielosigkeit zu stellen betäubte ich mich und lasse mich treiben. Gut aussehende, talentierte Menschen zeigen in kurzen Videos inspirierende, tiefgründige, unterhaltende, sexy, interessante Dinge. Was kann da schon schief gehen? Das Suchtpotential ist enorm.

Das an sich wäre jetzt vielleicht noch nicht so schlimm. Jeder Mensch hat meiner Meinung nach ein Recht auf Rausch – also auch auf den TikTok-Rausch. Wie bei allen Suchtmitteln kommt es hier auf die Dosis an. Ein Bierchen ab und zu kann das Leben lebenswerter machen, eine halbe Stunde TikTok ab und zu auch. Was ist dann das Problem dahinter.

Für mich ist das Hauptproblem, dass ich es in Momenten benutze, in denen mir Zeit frei zur Verfügung steht. Ich kann in der Zeit machen, was ich will. Ich habe Freizeit. TikTok im Besonderen und am Handy rumdaddeln im Allgemeinen ist so verführerisch, weil es so niederschwellig ist. Ich muss nichts weiter tun als mich auf die Couch zu setzen und loszulegen. Andere, in meinen Augen und auch objektiv gesehen „höherwertige“ Tätigkeiten, wie z. B. einen Text wie diesen zu schreiben, TypeScript zu lernen, Esperanto zu üben oder einfach mal raus zu gehen und die Natur zu genießen, benötigen eine höhere Anfangsenergie. Ich muss zunächst etwas investieren, auch wenn es auch nur wie eine Kleinigkeit erscheint, um in den Genuss der Früchte der Tätigkeiten zu kommen.

Ich hatte mein erstes Handy mit 22 und das war kein Smartphone. Man konnte damit telefonieren, SMS versenden und Snake spielen, mehr nicht. Wer stattdessen mit dem Handy aufgewachsen ist, kann damit besser umgehen, weil man von Anfang an gelernt hat, damit umzugehen. Es ist wahrscheinlich wie mit allen neuen Medien, die im Laufe des letzten Jahrhunderts aufgekommen sind. Wie aufregend muss Radio gewesen sein für die Generation, die nicht damit aufgewachsen ist. Gleiches gilt für Fernsehen, das Internet und zuletzt vielleicht mit der immer und überall frei zugänglichen harten Pornographie und noch später der aktuell boomenden AI-Technologien. Jedes Mal predigten die schon älteren, situierten Generationen, dass die Gesellschaft quasi implodieren würde. Für die mit den Medien bzw. Phänomenen Heranwachsenden, waren das Selbstverständlichkeiten, die schon immer da waren und sie konnten dem pessimistischen Gejammer der Älteren, die der Entwicklung nicht hinter herkamen, nichts als Verachtung und Mitleid entgegenbringen.

Die heute unter zwanzigjährigen gehen dieser Logik nach wesentlich souveräner mit auf Sucht getunten Apps um als jemand in meinem Alter, der recht spät mit den Aufmerksamkeits-Staubsaugern in Berührung gekommen ist. Mir können sie einen Tag versauen. Sie hindern mich daran ins Handeln zu kommen, weil sie, wenn ich der Versuchung einmal nachgegeben habe, was in schwachen Momenten passieren kann, mich für lange Zeit binden und mir schnelle Befriedigung, geistige Anregung und vordergründig wertvollen Input geben. Leider lässt sich in unter zwei Minuten kein Thema wirklich tiefgründig durchdringen und eine Laufrunde oder in Waldspaziergang liefert doch ganz andere Beiträge zu meinem Leben, die durch die Beschäftigung mit TikTok und Co. nicht zu ersetzen sind.

Ich könnte die Sucht-Apps jetzt natürlich einfach deinstallieren. Aber ich wähle den herausfordernderen Weg: ich möchte mein Suchtmittel behalten, aber in gesünderen Dosen einsetzen. So wie ich Bier mit Genuss trinke und mich nicht abschießen möchte, werde ich auch TikTok in Zukunft bewusst und maßvoll konsumieren.


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